Internat, Unterricht und Tagesinternat – drei Seiten einer Medaille 2|3

0 Bernd Westermeyer

Liebe Roßleberinnen und Roßleber,

in meinem ersten Schreiben habe ich nicht alle Fragen zu meiner Person aufgegriffen, da der Text ansonsten aus den Fugen geraten wäre. Persönliche Details – von meiner Lieblingsfarbe bis hin zu Hobbys – solltet Ihr im Übrigen auch lieber selbst erspüren und Euch dazu ab September einfach ein eigenes Bild von den Westermeyers machen.

Heute möchte ich auf all jene Eurer Fragen eingehen, die das Leben im Internat und den Unterricht betreffen. Bereits einleitend sei allerdings angemerkt, dass ich mich zu den schulischen und internatlichen Verhältnissen der Gegenwart nicht sinnvoll äußern kann, da ich Roßleben aus eigener Anschauung und eigenem Erleben ja noch gar nicht kenne. Wertvoll sind Eure diesbezüglichen Fragen allerdings trotzdem, denn sie helfen mir, schon jetzt einige Themenfelder auszumachen, über die wir im kommenden Schuljahr als Lebens- und Lerngemeinschaft ins Gespräch kommen sollten.

Was das Thema „Internat“ angeht, so möchte ich etwas ausholen, um deutlich zu machen, dass ich diesen „Sozialen Kosmos“ tatsächlich erst für mich entdecken musste: Bis zu meinem Dienstantritt an der Landesschule Pforta im Jahre 2007 war mir nicht bewusst, wie positiv die Gemeinschaft an einem guten Internat prägen und auf das Leben vorbereiten kann. Mein eigener Vater, der aus einer sehr kinderreichen Bauernfamilie stammt, hatte in den 50er Jahren ein kleines katholisches Internat im Münsterland besucht und mir viel erzählt. Seine trotz aller verklärten Begeisterung kruden Nachkriegsgeschichten aber weckten bei mir keinerlei Interesse an Internatsschulen. Stattdessen ging ich als Schüler und Student – vor allem auch medial vermittelt – davon aus, bei Internaten handele es sich um autoritäre Erziehungsanstalten für Sprösslinge von Eltern, die – wie seinerzeit meine überforderten Großeltern – keine Zeit für ihre Kinder haben oder einfach nicht in der Lage sind, ihre Kinder zu erziehen. Pforta, Salem und andere Internatsschulen im In- und Ausland, die ich in den vergangenen Jahren kennenlernen durfte, belehrten mich erst Jahre nach der Universität eines Besseren.

Dass in Roßleben etwa ein Viertel aller Schülerinnen und Schüler nicht nur in der Schule lernen, sondern auch leben, während der größte Teil der Schülerschaft spätestens am Abend wieder den Heimweg antritt, ist für mich nach Schulpforta und Salem etwas Neues und außerdem eine echte Herausforderung. Ist es als Rektor und „Gesamtleiter“ doch meine erklärte Aufgabe, Tagesschule, Tagesinternat und Internat so zu verklammern, dass sich alle Schülerinnen und Schüler als vollwertige Mitglieder der Roßleber Gemeinschaft fühlen und dass auch Kollegium und Tutorenschaft im Alltag am selben pädagogischen Strick und auch in dieselbe Richtung ziehen. Um diesen Gemeinschaftsgeist zu stärken, werde ich den guten Willen einer jeden Schülerin und eines jeden Schülers sowie die kollegiale Unterstützung aller in Roßleben tätigen Erwachsenen brauchen. Gerade vor dem Hintergrund des gerade erst bösartig entfachten Krieges zwischen Russland und der Ukraine aber bin ich überzeugt, dass Roßleben auch weiterhin und immer wieder neu ein Ort des respektvollen Miteinanders sein möchte; ein guter Ort, an dem Kinder, Jugendliche und Erwachsene angstfrei leben, lernen und arbeiten können.

Dass sehr viele Eurer schulischen Fragen um „Internationalität“ und „Fremdsprachen“ kreisen, freut mich sehr: Wer den Mut aufbringt, über Urlaubsreisen hinaus eine Zeit im Ausland zu leben und kommunikativ völlig ohne die vertraute Muttersprache auskommen muss, weiß nicht nur das Schweigen eines Fremden zu deuten. Dank Eurer Fähigkeit, andere Sprachen sowohl zu verstehen als auch aktiv zu verwenden, könnt Ihr die Welt im wahrsten Sinne des Wortes „erfahren“. Bedeutsam ist dies während und vor allem nach Eurer Schulzeit nicht nur, damit Ihr Euch privat und beruflich andere Länder und Kulturen erschließt, sondern auch, um von außen einmal einen frischen Blick auf Deutschland und die Qualität des Lebens in Eurem Heimatland zu werfen. 

Diese wichtigen Perspektivwechsel, die persönliche Begegnung von jungen Menschen aus aller Welt sowie gemeinsames soziales Engagement für hilfsbedürftige Menschen liegen dem global aufgestellten Round Square-Schulverbund, welchem Roßleben seit einigen Jahren angehört, in besonderer Weise am Herzen. Bedingt durch die Corona-Pandemie war es seit 2019/20 leider kaum noch möglich, Schüleraustausche und internationale Schülerprojekte zu organisieren, da gravierende Gesundheitsrisiken für potentielle Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht ausgeschlossen werden konnten. Dank der Möglichkeit vieler Schülerinnen und Schüler von Round Square-Schulen, sich bereits im Kinder- und Jugendalter wirksam impfen zu lassen, und aufgrund der Erfahrungen mit effektiven Infektionsschutzmaßnahmen (Masken, Handhygiene etc.) sollte es für Interessierte vom Schuljahr 2022/23 an aber endlich wieder möglich sein, andere Schulen und Länder kennenzulernen, und schön wäre es natürlich auch, wenn Roßleben deutschlandinteressierte Gastschülerinnen und -schüler willkommen heißen könnte. Gern werde ich jedenfalls Kontakte zu einer ganzen Reihe von Round Square-Schulen nutzen, um „Reisetore“ aufzustoßen und so die Arbeit von Frau Radecker als Round Square-Rep(räsentantin) zu unterstützen.

Segensreich ist übrigens auch die Kooperation von Round Square-Schulen innerhalb eines Landes sowie zwischen benachbarten Staaten. Bei eher geringen Reisekosten können ebenfalls gemeinsame Projekte organisiert und inspirierende Veranstaltungen besucht werden. Möglich ist all dies dankenswerter Weise nicht nur auf Ebene der Schülerschaft. Auch interessierte Lehrerinnen und Lehrer sowie Internatstutorinnen und -tutoren können unkompliziert über ihre Arbeit sowie besondere Herausforderungen ins Gespräch kommen und von ihren wechselseitigen Erfahrungen und pädagogischen Ideen enorm profitieren.

Ein weiteres Themenfeld, das zahlreiche Eurer Fragen betrafen, ist die Digitalisierung des Unterrichts. Zu diskutieren ist dabei gewiss nicht mehr, ob, sondern wie wir Computer, das Internet, Kommunikationsplattformen oder auch Künstliche Intelligenz künftig so in den Unterricht, das Internat und die Verwaltung integrieren können, dass ein Mehrwert gegeben ist. Unser Arbeiten, Lehren und Lernen werden sich im Zuge der Auseinandersetzung mit immer neuen digitalen Möglichkeiten verändern – ganz sicher nicht überstürzt, aber doch konsequent, reflektiert und unter bewusster Fortschreibung bewährter analoger Lehr- und Lernformen. 

Schon immer zeichneten sich besonders gute Schulen im Übrigen dadurch aus, dass Sie das selbständige Lernen lehrten und die Welt ganzheitlich begreifbar machten. Bereit und in der Lage zu sein, sich dabei in Zukunft der Möglichkeiten der digitalen Welt bedienen zu können, wird für Euer aller Leben von besonderer Bedeutung sein. Ein Experte aus dem Bereich Mathematik, der zumindest den Älteren von Euch durch seine millionenfach aufgerufenen YouTube-Clips bekannt sein dürfte, ist Daniel Jung. Er entwickelt im Augenblick ein neues individualisierbares Lernformat für unterschiedliche Fächer, das über das Internet weltweit nutzbar sein soll. Wenn Euch dieser Ansatz interessiert, könnte sich Roßleben aktiv in diese Projekt-Entwicklung einbringen. In jedem Fall hat Daniel mir bereits zugesagt, uns seine Vision vom selbständigen Lernen der Zukunft vor Ort in Roßleben vorzustellen, um anschließend mit Euch sowie interessierten Lehrkräften und Eltern in einen ersten Kennenlern-Austausch zu kommen.

Abschließend möchte ich ausgehend von Euren Fragen unterstreichen, dass mir jenseits der aktiven Aneignung von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die vom Staat curricular vorgegeben sind, eines besonders wichtig erscheint: Roßleben darf sich nicht mit Richtlinien-konformer Ausbildung und der Vorbereitung auf möglichst gute Schulabschlüsse begnügen. Roßleben sollte in Schule, Tagesinternat und Internat vielmehr ein Ort sein, an dem zeitlose Werte nicht gepredigt, sondern so vorgelebt werden, dass sie tatsächlich für das Leben prägen. 

Tapferkeit, Klugheit, Bescheidenheit und Gerechtigkeit – vier der Antike entlehnte Tugenden, die in Roßleben über nahezu fünf Jahrhunderte viel Gutes angestoßen haben, können uns auch im 21. Jahrhundert Leitsterne sein, in einer hochkomplexen, schnellen Welt Orientierung geben und unserem Leben in Freiheit ein stabiles Wertefundament verleihen. Niemand von uns ist – Gott sei Dank – perfekt, aber wir können doch ein Leben lang an uns selbst arbeiten: Vor allem können wir uns immer wieder neu bemühen, anderen Menschen mit derselben Achtung und Achtsamkeit zu begegnen, die wir, wie selbstverständlich, auch von ihnen erwarten. 

Ich freue mich darauf, diesen Weg mit Euch zu gehen!


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